Erinnerungen von Eva Heinemann Geb. Nitschke

Ein Jahr vor ihrem Tode schrieb Frau Eva Heinemann geb. Nitschke (04.05.1900-04.01.1987) ihre Erinnerungen an Leba nieder.

Leba war ein kleiner pommerscher Badeort, der durch die Bemühungen meines Vaters Maximilian Clemens Nitschke (geb. 17.11.1865) in ganz Deutschland bekannt wurde. Mein Vater hat sein Lebenlang viel für die Entwicklung des Ortes getan. Er hat z.B. mit dafür gesorgt, das Leba an das Eisenbahnnetz angeschlossen wurde und legte die Baumbestandene,

„Seestraße“ an, die später dann den Namen des sog. Führers erhielt und vieles andere mehr.

Meine Eltern besaßen im Ort ein Hotel (vormals Bahr´s Hotel , Anm.d.vs. BB Nr.7 später Zentral-Hotel Inh. Noffke) Und bis 1908 am Strand einen Pavillon, der dann abgerissen wurde, weil daneben das Kurhaus Entstand uns sich dadurch der Betrieb nicht mehr lohnte. In dieser Zeit begann gerade hier die See; den Strand abzutragen, Fachleute sagten, dass die Strömung durch falsche Anlage der Molen auf diese Stelle der Küste gelenkt wurde. Das Kurhaus wurde immer mehr gefährdet und schließlich 1910 geschlossen. 1911 kaufte mein Vater das Haus auf Abbruch, Also günstig. Das gesamte Mobiliar war ausgelagert. Dann machte mein Vater sich daran, die gefährdete  Düne vor dem Haus durch eine Betonmauer, die hinter 5m langen, eingerammten Pfählen stand, zu befestigen und die Düne wieder anzuschütten. So war das vor dem Haus wieder ein weg von6-7m Breite entstanden, wo früher eine Düne von ca. 12m breite mit Platz für eine Musikkapelle im Sommer war. 1912 wurde das Haus wieder eröffnet. Mein Vater hatte inzwischen auch das Mobiliar wieder gekauft. Die Saison verlief sehr gut. Dann kam der Winter 1913/14 die Große Sturmflut.

Der Sturm tobte wochenlang von Westen, wodurch sich der Wasserstand der Ostsee sehr erhöhte. Dann sprang der Sturm um auf Nordost und nun wurden die Wassermassen auf die pommersche Küste gedrückt, die schwere Verwüstung erlitt. Die Düne vor dem Kurhaus verschwand in einer Nacht – das Haus stand am Abgrund. Es war kein Fußbreit mehr, um vorbei zu gehen! Und mitten im tobenden Meer stand unverletzt die Mauer, die mein Vater angelegt hatte. Er war damals ungeheuer stolz darauf. In der Sturmnacht, als alles verloren schien, war durch Hilfe der Bevölkerung alles Mobiliar wieder ausgeräumt worden. Umliegende Güter hatten Fuhrwerke und Menschen zur Hilfe geschickt. Die ganze männliche Bevölkerung Lebas war damit beschäftigt, von den Nebendünen Sandsäcke heranzuschaffen, die vor dem Kurhaus die Düne noch schützen sollten. Damals war der ganze Ort Leba gefährdet. Das Wasser der Ostsee war durch die Mündung der Leba ins Land gedrängt und hatte alles unter Wasser gesetzt. Der Sturm steigerte sich von Stunde zu Stunde. Meine Mutter und wir Kinder Saßen bis Mitternacht voller Angst und Schrecken im Hotel im Ort und horchten auf das Toben. Um Mitternacht schickte mein Vater dann einen alten Fischer, der sagte, dass die größte Gefahr vorbei sei. Der Sturm war wieder umgesprungen und hatte etwas nachgelassen. Am nächsten Tag war es für uns Kinder noch unmöglich, mal an den Strand zu gehen und das Unglück zu besichtigen. Wir schlichen alle ganz verängstigt im Haus umher, denn erstens braucht mein Vater nach der Nacht Ruhe, und dann war er auch seelisch und nervlich am Ende. Als wir Kinder mit unserer Lehrerin am Übernächsten Tag an den Strand gingen, war der Sturm immer noch so Stark, dass ein alter Mann, der auch gekommen war, vor unseren Augen kopfüber in den Wald gerollt wurde. Wir konnten am Kurhaus nicht vorbei. Eine ganze Dünenkette war in einer Nacht verschwunden, die vertraute Landschaft völlig verändert. Beide Badeanstalten, die am strand gestanden hatten waren weg. Ihrer Trümmerwaren auf der Südseite des Leba-Sees gelandet! An der Ost und Westseite des Kurhauses  ragten die Fundamente in die Luft, die beim Bau wegen des Sandbodens sehr weit heraus angelegt worden waren. Das Haus wurde behördlich geschlossen. Nun begannen die Verhandlungen. Kommissionen kamen und begutachteten alles. Mein Vater setzte alles daran, dass das Haus nicht abgerissen wurde. Nachdem bauamtlich geklärt war, dass das Haus keinen Schaden erlitten hatte, begann er, die Düne erneut zu befestigen. Die stehen gebliebene Mauer wurde nach beiden Seiten verlängert und verstärkt. Dann wurden in monatlicher Arbeit von täglich 40 Männern auf Loren Sandmasten heran gefahren, um die Düne wieder

anzuschütten. Zu Pfingsten 1914 wurde das Haus wieder eröffnet. Und dann brach im Sommer, als das Haus voller Gäste war, dar Krieg aus. Alles reiste sofort ab. Der Eisenbahnverkehr wurde, nachdem einberufene Reservisten abgefahren waren, für 14 Tage ganz eingestellt. Wir kehrten in Zeitalter der Postkutschen zurück, was für uns Kinder höchst romantisch war. Die Saison, die ja helfen sollte, die schwierige pekuniäre Lage meines Vaters zu verbessern, war vorbei und es war Krieg! Mein Bruder Mäcki ging sofort als Kriegs-freiwilliger ins Feld, meine Mutter weinte viele Tränen. Mein Vater war sofort wieder „auf vollen Touren“. Er setzte sich mit dem befreundeten Verleger der Lauenburger Zeitung in

Verbindung und bat ihn, ihm jede Nachricht vom Kriegsgeschehen sofort telefonisch zu melden. Es gab ja damals weder Radio noch Fernsehen. Jede Nachricht wurde von meinem Vater sofort geschrieben und an die Veranda unseres Hotels in der Stadt geheftet. Das Kurhaus war damals bis 1930 außerhalb der Saison geschlossen. Es ergab sich von selbst, dass sich abends die Einwohner Lebas bei uns vor der Tür versammelten. Mein Vater verlas die neusten Nachrichten und auch Zeitungsaufsätze. Einige Male wurden dann unter Glocken-Geläute Siege verkündet. Die Leute sangen spontan „Nun dankt alle Gott“ oder ein patriotisches Lied. Einmal wurde der Untergang eines Kriegsschiffes bekannt gegeben, da schrie eine Frau „Da ist ja mein Junge drauf!“ Es war schrecklich. Alle Menschen waren erschüttert. Mit Einbruch des Herbstes und der kalten Witterungen hörten dann diese Abende auf und wohl auch, weil die ganze Begeisterung und Aufregung nachließ. Im Volksmund wurden damals die Jahre 1912-1913-1914 so genannt: „Glutjahr“ – „Flutjahr“ – „Blutjahr“.

Mit dem Krieg kam die schlechte Verpflegung in Deutschland. Mein Vater pachtete in Rumbke bei Leba am Lebasee ein Wiesengrundstück von 40 Morgen. Eine Wirtschafterin wurde eingesetzt, die 2 Kühe und ganze Herden von Gänsen und Enten zu versehen hatte. Die Fischerei im Sarbsker See wurde gepachtet, 2 Fischer eingesetzt, die für uns fischten, und 1916 das Gut Schönehr gekauft, mit 700 Morgen Wald und 300 Morgen Äcker und Wiesen. Ein Gärtner versah einen riesigen Gemüsegarten, zwei Karpfenteiche im Park sorgten für Fischgerichte. Ein Teil der Lebaer und Labenzer Jagd wurde gepachtet, ebenso die Jagd auf Wildgeflügel auf dem Lebasee. Nun war also die Verpflegung für die Badegäste im Sommer gesichert. Sie kamen in Scharen aus ganz Deutschland. Es gab Gemüse, Kartoffeln, Wild, Geflügel und Fisch reichlich, und das sprach sich herum. Im Villenviertel baute mein Vater ein Haus mit 5 Zimmern für Gäste. Ein Mädchen besorgte das Frühstück und Abendbrot, Mittag aßen sie im Kurhaus. Das Haus war weiß mit roten Klinkern und hatte blaue Fensterläden. Eine Zeit lang besaß mein Vater noch ein Haus in Leba, dessen eine Hälfte an ein Papiergeschäft verpachtet war. In der anderen Hälfte wurde ein Lebensmittelgeschäft von uns selbst betrieben. Es war da ein Mädchen eingesetzt, und wir Kinder besuchten es gerne, weil wir uns da immer Bonbons und Schokolade holten. Dann hatte mein Vater noch das Bahnhofslokal gepachtet, das von einem Mädchen, das wir die kleine Berta nannten, bewirtschaftet wurde. Hotel, Kurhaus und Bahnhofsrestaurant waren durch Privattelefon verbunden. Das Hotel war der Hauptsitz, von da aus wurde alles geleitet. Mein Bruder, vom Militär freigestellt, übernahm die Leitung des Gutes und heiratete 1920. Ein Jahr später wurde ein Junge geboren, der dritte Maximilian. (Anm.d.Red.: Dieser Maximilian Nitschke war 33 Jahre als Meteorologe bei der Wetterstation auf dem Brocken tätig u. lebt heute als Rentner in Schierke, wo er die Klimastation betreut u. noch täglich die Wetter-Informationstafel im Ort gestaltet.) Drei Monate später, weihnachten 1921, starb mein Bruder an de Folgen der Kriegsverletzungen. Es war für meine Eltern ein furchtbarer Schlag. Mein Vater zog sich von allem zurück. Das Hotel wurde 1922 verkauft, es blieben nur das Kurhaus und das Gut Schönehr. Wir übersiedelten auf das Gut, wo auch die junge Frau meines Bruders, Else Nitschke, mit ihrem Kind ihre Wohnung behielt. Im Winter lebten wir also auf dem Gut und im Sommer in Leba im Kurhaus. Das Kurhaus war nur für den Sommerbetrieb eingerichtet, also ohne Heizung. Inzwischen waren zwei meiner Schwestern (Elsbeth und Grete) und ich selbst verheiratet. Nur die älteste Schwester Lotte war noch zu Hause und im Betrieb beschäftigt. Mein Vater verkaufte schließlich auch das Gut Schönehr – ich meine, im Jahr 1934. Das Kurhaus wurde zum Teil mit Zentralheizung versehen, und zwar die privaten Räume, die Winterküche, das Winterlokal und mehrere Fremdenzimmer. Meine Schwägerin Else bekam im Kurhaus eine eigene Wohnung und erledigte die gesamte Büroarbeit für den Betrieb. „Tante Lotte“ war zuständig für die Wäschekammer und für die Aufsicht über die Zimmermädchen. Unsere Großmutter leitete mit Hilfe einer „Mamsell“ und etlicher Mädchen die Küche. Später wurde das große Büfett in der Halle verpachtet. In der Sommer-Saison war eine 3-Mann-Kapelle engagiert. Die Konditorei betrieb ein Fachmann, Herr Schlosser genannt „Schlösschen“, von dem auch die 6 Enkelkinder mit Eis versorgt wurden. Wir verheirateten Schwestern verlebten jedes Jahr die Ferien zu Hause. Dadurch wurde Leba auch die Heimat unserer Kinder, die dort herrliche Ferien verbringen konnten und bis heute durch die gemeinsamen Jugendtage verbunden sind. Dann wieder Krieg! Unsere Männer- Werner Behrendt als aktiver, Edgar Heinemann als Offizier der Reserve- waren von Anfang an dabei. Zunächst ging der Sommerbetrieb im Kurhaus weiter. Dann wurde unter vielen geheimnis- vollen Gemunkeln in Rumbke von Rheinmetall- Borsing eine Versuchsstation für Raketen eingerichtet, deren leitende Herren- Ingenieure, Offiziere usw.- im Kurhaus Wohnungen nahmen, nachdem es als Gästehaus beschlagnahmt und auch der öffentliche Lokalbetrieb eingestellt worden war. Sogar der Strand wurde gesperrt, wenn Raketen gezündet wurden. Also kein Fremdenverkehr mehr. 1943 wurde ich in Berlin zum Kriegsdienst in einer Fabrik verpflichtet, die aber schon im August desselben Jahres total zerstört wurde, so dass ich nach Leba fahren konnte, wo ich auf Antrag meines Vaters in seinem Betrieb tätig wurde, u. a. bei der Abrechnung von Lebensmittelmarken. Ich war also ab Winter 1943 wieder in Leba, mein Mann in Russland, meine Tochter als Lehrerin in Westpreußen. Als mein Mann 1944 auf Urlaub nach Hause kam, fuhren wir mit unserem alten, treuen Hausdiener Wilhelm Dornau nach Berlin. Dorthin brachten wir mehrere Koffer mit Wäsche, Besteck usw. in einem Keller der Reichsbank, machten wir einige wertvolle Möbel versandfertig u. packten 10 große Kisten voll, die wir nach Leba transportieren ließen. Es war also alles gut aufgehoben! Die Russen brauchten dann 1945 nur noch mit Lastwagen vorzufahren und alles aufzuladen! Und dann kam das Ende! Die Heimat musste verlassen werden. Meine Eltern wurden von einem Autotreck von Rheinmetall- Borsing mitgenommen. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mit ihrem Koffer in der Hand das Haus verließen- alles verließen, was sie ei Leben lang unter Mühen erarbeitet hatten. Sie Gingen als alte Menschen in eine ungewisse Zukunft- meine Mutter weinend- mein Vater sie stützend.